Passo Torri di Fraele – Der vergessene Pass zu den mittelalterlichen Türmen
Wer seinen Oldtimer/Youngtimer-Urlaub im Vinschgau verbringt, sollte sich einen Tag Zeit nehmen für einen echten Geheimtipp jenseits der überlaufenen Alpenpässe: den Passo Torri di Fraele. Nie gehört? Ja, das ging mir bis vor kurzem auch so. Während sich die Blechlawinen übers Stilfser Joch oder Timmelsjoch wälzen, bleibt diese spektakuläre Serpentinenstraße nahe Bormio erstaunlich verschont vom Massentourismus. Vielleicht liegt es daran, dass die Straße als Sackgasse endet, vielleicht auch an der (moderaten) Mautgebühr von fünf bis sieben Euro – für Oldtimerfahrer jedenfalls ist sie ein kleines Paradies.

Die schönste Anfahrt: Durchs Münstertal über den Umbrailpass
Von Südtirol aus führt der Weg über den Reschenpass ins benachbarte Vinschgau und weiter südwärts nach Bormio. Doch statt über die engen und unübersichtlichen Rampen des Stilfser Jochs zu klettern, empfehle ich die noch schönere Anfahrt durch das Schweizer Münstertal über den Umbrailpass. Von Mals im Vinschgau geht es durch das idyllische Val Müstair mit seinen charakteristischen Engadiner Häusern bis nach Santa Maria. Hier zweigt die Passstraße mit im Ort und ganz eng, so dass man sie leicht übersieht, links zum Umbrailpass ab. In engen und weiten Kehren schraubt sich der Umbrail auf 2.501 Meter Höhe – mit atemberaubenden Blicken auf die Ortler-Gruppe. Der Umbrail ist der höchste ganzjährig asphaltierte Schweizer Alpenpass und bietet eine wunderbar entspannte Fahrt ohne großen Stress. Von der Passhöhe und der Landesgrenze zu Italien sind es dann nur noch wenige Kilometer bis zum Stilfser Joch, wenn man links hinter dem alten Zollgebäude abbiegt. Rechts geht es durch italienisches Hochgebirgsgelände hinunter nach Bormio mit spektakulären Tunneldurchfahrten und Ausblicke auf hochalpine Wasserfälle. Diese Anfahrt kombiniert gleich zwei spektakuläre Pässe und macht unseren Tagesausflug zum echten Alpenerlebnis.
Die lombardische Kleinstadt Bormio ist bereits für sich eine Reise wert, doch der eigentliche Schatz wartet ein paar Kilometer nördlich in Fahrtrichtung Livignio bei Valdidentro. Hier beginnt die asphaltierte Privatstraße hinauf zum Pass, und schon nach den ersten Metern wird klar: Das wird eine besondere Fahrt.

Serpentinen mit Stil: Die Auffahrt zu den Türmen
Auf rund 1.950 Metern Höhe schlängelt sich die Strecke in 20 engen Kehren den Berg hinauf. Anders als bei den großen Pässen geht es hier gemächlicher zu – perfekt, um den Klassiker in seinem Element zu erleben, ohne ständig modernen Sportwagen Platz machen zu müssen. Die Straße wurde 1926/27 für den Bau des Staudamms am Lago di Cancano angelegt, und man spürt noch heute die solide Ingenieurskunst jener Zeit. Ein kurzer Tunnel kurz vor der Passhöhe erinnert daran, dass hier einst sogar eine Oberleitung für Elektro-Lastwagen verlief, die Material für den Dammbau transportierten.

Was diese Route so reizvoll macht, ist die Abwechslung: Zunächst schraubt man sich durch dichte Wälder und vorbei an schroffen Felswänden, dann öffnet sich plötzlich der Blick auf die türkisblauen Stauseen Lago di Cancano und Lago di San Giacomo, die in der Sonne glitzern. Die Südrampe bietet dabei Panoramen, die man sonst nur von den berühmten Schweizer Pässen kennt – nur eben ohne Kolonnenverkehr. Die Straße ist eng, aber an den meisten Stellen breit genug für unseren schmalen Oldtimer. Wenn nicht, gibt es genügend Ausweichbuchten.
Die Türme von Fraele: Steinerne Wächter der alten Handelsroute
Oben angekommen, thronen die namensgebenden Torri di Fraele über der Landschaft wie Wächter aus einer anderen Zeit. Diese mittelalterlichen Türme wurden 1391 unter der Herrschaft der Visconti errichtet, um die wichtige Handelsroute zwischen Bormio und dem Engadin zu sichern. Die „Via Imperiale d’Alemagna“ war im Spätmittelalter eine Hauptschlagader des Warenverkehrs, und wer hier durchkommen wollte, musste an den Türmen vorbei und hier seinen Zoll entrichten. Nach ihrer Zerstörung im Jahr 1513 verfielen sie, doch heute sind die Ruinen teils restauriert und begehbar. Ein kurzer Spaziergang lohnt sich – nicht nur wegen der Geschichte, sondern auch wegen des Ausblicks, den man von oben genießt.

Die beiden Stauseen selbst sind künstlich angelegt und entstanden ab 1922 zur Wasserkrafterzeugung. Das Tal, einst von Naturseen und Torfmooren geprägt, wurde dabei grundlegend verändert. Sogar ein altes Pilgerhospiz versank in den Fluten. Heute liegen die Seen friedlich im Nationalpark Stilfser Joch und bieten eine beeindruckende Kulisse für eine Mittagspause.
Einkehr mit Seeblick: Die Rifugi am Pass
Und apropos Pause: Direkt an den Seen gibt es mehrere rustikale Rifugi, die typische Veltliner Küche servieren. Das Rifugio Val Fraele liegt idyllisch zwischen beiden Seen und bietet auf seiner Sonnenterrasse einen herrlichen Blick aufs Wasser. Wer es etwas traditioneller mag, kehrt im familiengeführten Ristoro Monte Scale ein, das nahe der Staumauer liegt.

Die Staumauer selbst kann man im Auto überqueren. Wer bereit ist, eine gute verdichtete Schotterstrecke von insgesamt zwei Kilometern Länge ohne Schlaglöcher langsam und vorsichtig zu befahren, erreicht auf der anderen Seite des Sees das idyllische Rifugio Solena am Ufer des Lago di Cancano. Eine urige und freundliche Adresse für leckere regionale Spezialitäten. Und die Aussicht von der Terrasse ist schlicht sensationell. Wem dies noch nicht reicht, steigt im Sommer in einen der Shuttle-Busse, die rund um die Seen fahren, was dem öffentlichen Verkehr untersagt ist.

Die Hütten haben meist von Juni bis Oktober geöffnet, außerhalb der Hauptsaison sollte man sich vorab erkundigen.
Praktische Hinweise für die Passfahrt
Ein paar praktische Hinweise für die Fahrt: Die Straße ist von Mitte Juni bis Anfang Oktober befahrbar, im Winter bleibt sie geschlossen. Wohnwagen sind verboten, was der Strecke zusätzlich zu ihrer Beschaulichkeit verhilft. Im Juli und August kann es zu temporären Sperrungen kommen, besonders am Wochenende, wenn die Einheimischen zum Wandern und Radfahren hinaufströmen. Wer es ruhiger mag, sollte unter der Woche oder im Frühherbst kommen, wenn die Lärchen golden leuchten und die Bergwelt in warmes Licht getaucht ist.

Ein perfekter Tagesausflug
Für einen Tagesausflug vom Vinschgau aus ist der Passo Torri di Fraele ideal: Morgens über den Umbrailpass nach Bormio, gemütlich die Serpentinen hinauf, oben die Türme besichtigen, in einem der Rifugi einkehren und nachmittags entspannt zurück ins Quartier. Die reine Fahrzeit von Mals im Vinschgau bis zum Pass beträgt rund drei Stunden, mit Pausen und Besichtigungen sollte man einen ganzen Tag einplanen.

Was diesen Pass so besonders macht, ist die Kombination aus allem: die kurvenreiche, technisch anspruchsvolle Strecke, die historischen Türme, die grandiose Bergwelt und die Tatsache, dass man hier noch relativ ungestört fahren kann. Während anderswo die Influencer ihre Drohnen steigen lassen, bleibt am Passo Torri di Fraele Zeit für das Wesentliche – die Freude am Fahren, die Schönheit der Alpen und ein Stück vergessener Geschichte.
Noch ein echter Insidertipp also, den man sich als Oldtimerfahrer nicht entgehen lassen sollte.

