Mein letzter Lancia – der italienische „Schneewittchensarg“
Über die Geschichte und die technischen Pionierleistungen von Lancia ist schon viel geschrieben worden. Ende November 1906 gründeten Vincenzo Lancia und sein Freund, der ehemaligen Fiat-Versuchsfahrer Claudio Fogolin, das Unternehmen in Turin. Mein letzter Lancia ist deutlich jünger und gehört zu den automobilen Kindern der ungeliebten ersten Generation, nachdem Fiat Lancia 1969 übernahm.
Ich möchte euch heute meinen weißen Lancia Beta HPE vorstellen. Er gehört schon lange zu den vom Aussterben bedrohten Oldtimern, da dieser Wagen außerhalb des italienischen Stiefels kaum bekannt ist. Dabei handelt es sich um ein durchaus exklusives, sportliches und überaus praktisches Fahrzeug – ein dreitüriges Coupé, neuhochdeutsch auch gerne „Shooting Brake“ genannt.

Die Bezeichnung „Shooting Brake“ für Autos entstand in den 1950er und 1960er Jahren in England und wurde für Autos mit sportlichen Fahrleistungen verwendet, die dazu über einen großen und gut zugänglichen Laderaum verfügten. Diese Modelle waren vor allem bei Golf- und Polospielern und Jägern beliebt, da sie ihre Ausrüstungen darin bequem verstauen konnten. Ursprünglich stammt der Name aus der Zeit der Kutschen, als man die stärksten und temperamentvollsten Pferde zum Ziehen schwerer Wagen einsetzte, um ihre übermäßige Energie zu bremsen (brake heißt übersetzt bremsen). In jüngster Zeit, in der die Autobauer auch die kleinste Marktnische mit Modellen fluten, ist der Begriff wieder für Sportwagen in Mode gekommen, die niedrig und schnittig sind, aber über eine bequeme Heckklappe verfügen.

Da ich keine der oben genannten Freizeitaktivitäten pflege, ist der Lancia Beta HPE für mich aus einem anderen Grund ein nahezu idealer Oldtimer. Er verfügt schon über eine geteilt umklappbare Rücksitzbank, die aus dem schon üppigen Kofferraum eine komplett ebene und gut zwei Meter lange Ladefläche macht. Ideal für alle Hundefreunde, die auch schon mal drei oder vier Fellnasen im Auto mitnehmen möchten. Schön ausgekleidet mit bequemen Hundekissen fühlen sich unsere Podencos im HPE wie zu zuhause – mit bestem Ausblick auf die Landschaft und die Autos hinter uns. Der HPE ist für mich die ideale vierrädrige Verbindung der Leidenschaften für Hunde und für Oldtimer!

„Shooting Brakes“ oder „Lifestyle Kombis“ sind keine Erfindung der Neuzeit. Stilbildend waren hier der schwedische Volvo 1800 ES, auch liebevoll wegen der großen gläsernen Heckklappe „Schneewittchensarg“ genannt, und der britische Reliant Scimitar GTE, den auch Prinzessin Anne fuhr. Und 1975 brachte Lancia neben der Limousine, dem Coupé und dem Spider, die bereits seit Anfang der 1970er Jahre produziert wurden, mit dem Beta HPE dieses originelle dreitürige Coupé mit großem Kofferraum auf den Markt. Das Kürzel HPE steht für High Performance Estate, ins Deutsche übersetzt etwa Hochleistungskombi. Insgesamt entstanden in der Bauzeit von April 1975 bis Dezember 1984 genau 71.257 Lancia HPE.

Mein weißer HPE, ein Zweiliter-Vergaser-Modell, kam auf relativ kuriosen Pfaden zu mir in die Garage. Seine Erstzulassung datiert aus dem Mai 1980. Wo dies geschah, bleibt bis heute verborgen. Auch wurde der Lancia offenbar nie viel bewegt. Gut 40.000 Kilometer zeigte der Tachometer, als ich den HPE erstmals in einer großen Tiefgarage in Iserlohn in Augenschein nahm. Hier stand der hübsche Turiner, der einen guten Eindruck machte –natürlich mit der ein oder anderen Macke-, aber noch nicht lange. Wie sich bei der Besichtigung heraus stellte, stammte mein HPE aus einer großen Oldtimersammlung. Ende 2013 verkaufte der Andorraner Antoni Riba seine Sammlung von 286 Klassikern komplett an einen Unternehmer im Sauerland. Dieser brachte die sagenumwobene „Pyrenäen-Sammlung“ mit 50(!) Autotransportern ins heimische Sauerland, mietete mehrere Tiefgaragen an und überließ den Verkauf einem befreundeten Oldtimerhändler. Ja, und mein Lancia ist einer von diesen 286 Oldtimern, die der kurz nach dem Verkauf an Krebs verstorbene Antoni Riba in 40 Jahren sammelte. Den damaligen Bericht darüber im Oldtimer Markt findet ihr hier https://oldtimer-markt.de/aktuell/nachrichten/Das-Beste-aus-40-Jahren-Abwicklung-eines-Sammler-Lebens
Seit jetzt gut zehn Jahren ist der italienische „Schneewittchensarg“ nun schon bei mir. Mit den Hunden haben wir ungezählte Tagestouren unternommen, großen HistoTouren durch die Dolomiten oder die Provence hat er weitgehend klaglos absolviert. Größere Reparaturen (nicht auf den Ausfahrten) sind schnell aufgezählt: ein gebrochenes Schaltgestänge ließ nur noch die Wahl zwischen den Gängen drei und vier und ein marodes Kühlernetz sorgte für ungesunde Inkontinenz. Vorsorglich habe ich die Ölwanne modifizieren lassen. Ach ja, fahrzeugtypische Ersatzteile sind auch in Italien nur mit großer Geduld und gebraucht zu finden. So haben wir aktuell den defekten Heizungskühler ausgebaut und das zickige Zündschloss gegen einen Kipp- und einen Druckschalter getauscht. Das ist dazu eine herrliche Diebstahlsicherung, denn ohne Einweisung kriegt niemand den HPE zum Laufen.

Der HPE ist ein typischer „Gegen-den-Strich“-Oldtimer. Kaum einer kennt ihn, noch weniger wollen einen, viele haben Angst vor der kritischen Ersatzteillage, kompetente Werkstätten sind auch noch rar und eins ganz wichtig: Der HPE ist alles andere als Garagengold. Die Wertentwicklung darf optimistisch mit „leicht positiver Tendenz“ bezeichnet werden.
Und er ist mein letzter Lancia. Seine berühmten Rallye-Brüder Fulvia Coupè und Delta Integrale habe ich in den vergangenen Jahren in neue treue Hände übergeben. Beide Modelle sind begehrt, haben eine wachsende Fangemeinde und gehören zu den Ikonen in der Geschichte des Rallye-Sports. All das hat der HPE nicht. Ist aber auch nicht schlimm. Ich vermisse nichts.

Eine detaillierte Historie des Lancia Beta HPE findet ihr auf der offiziellen Heritage-Seite von Lancia:
https://www.fcaheritage.com/de-de/heritage/geschichten/lancia-beta-hpe